
Text und Fotos: Felix Wölk
Von Berggeistern, Filzhüten und blutarmen Fäusten
Im Frühwinter durchsteigen Felix Wölk und Vali Burk den Klettersteig „Via Ferrata Zacchi“, der durch die Südwand der Schiara in den belluneser Dolomiten führt. Felix erzählt von der Leidenschaft Paraalpinismus, von unvergänglicher Bergromantik, und von Tatsachen, die eine Bergfahrt wie diese zum Erfolg führen.
Meine Hand umschließt mit aller Kraft das kalte Eisen. Ich zwinge mich zu langsamen Bewegungen. Angespannt halte ich meine Hüfte nahe am Fels, denn der Rucksack zieht mich im Überhang wie ein Magnet in die Tiefe. Ich bewege mich seilfrei, ungesichert, und lasse mich zu dem verlocken, was ein Kletterer nicht tun sollte: Den Blick zurück, wo der freie Fall in den Abgrund droht. Die erste überhängende Passage des Zacchi Klettersteiges jagt mir das Adrenalin in die Knochen. Ein Grossteil meines Gewichtes hängt an meinen zwei Armen, manchmal an einem. Meine Welt besteht aus Kleinigkeiten, die schlagartig ganz gross geworden sind: Aus den alten Verankerungen des Eisens, aus der Reibungskraft meiner Schuhsohlen, aus dem Befinden meiner Muskeln, Sehnen und Gelenke. Die Zeit fliesst langsam. Tief atmend sorge ich für Sauerstoff und schiebe meinen Körper über den Steilaufschwung. „Eine Sicherung wäre hier nicht verkehrt!“, rufe ich Vali zu. Wir diskutieren nicht. Ihre Sicherung besteht aus einem 300 Gramm leichten Gleitschirmgurt, den sie an einem Strick in das Drahtseil einhängt. Auf dem ersten Klettersteig ihres Lebens ist das besser als nichts.. Flink wie eine Eidechse krabbelt sie konzentriert empor, beschwert sich ein wenig über den hinderlichen Seilkram, sagt, ich sei ein „grausames Vorbild“, und freut sich strahlend über die „Action“ am Abgrund. Die richtige Einstellung für den „Zacchi“, denke ich mir, denn der Klettersteig zählt zu den anspruchsvollsten der Dolomiten. Wir sind aufgewärmt, mein Kreislauf ist von über tausend Höhenmetern gut in Schwung. Es ist vier Stunden her, als unsere ersten Schritte in die mondlose Nacht führten. Es war drei Uhr früh, am Taleingang des Valle dell’Ardo…
Zehn Kilometer tappten wir durch die Finsternis des engen Tales Richtung Wandfuss. Frisch gewobene Spinnennetze hingen vom Bergwald herab, legten sich klebrig auf unsere Gesichter. Mit den Rufen der Waldkäuze und Schleiereulen, den Nachtjägern, waren sie das einzige, was in der Kälte des Frühwinters von Leben zeugte. Bedachtes Fortschreiten war schon hier wichtig, denn oft brach der Weg neben dem Bergstiefel senkrecht in die Schlucht des Bachbettes ab. Im Talschluss erreichten wir das „Rifugio Settimo Alpini“. Eine Berghütte, benannt nach einer italienischen Brigade des ersten Weltkrieges, welche in den Wänden der Schiara vor über hundert Jahren gekämpft hatte. Es war noch etwas Brennholz geschlagen worden. In Voraussicht auf den Tag brachen wir einige Holzsplitter zurecht, um unsere Gleitschirme in steilem Gelände fixieren zu können. Der Morgen graute, die Felsnadeln der belluneser Dolomiten glühten rot, und eine Gedenktafel am Einstieg des Klettersteiges mahnte zur Vorsicht.
Nun steigen wir weiter durch die schwindelerregende Wand. Bald finden wir uns in einer senkrechten Felswelt wieder. Karg und trocken führt der Steig durch schattige Kamine, in denen der kalte Bergwind noch abfließt. Dann über Felsnasen, die luftig auf sonnige Wiesenflecke führen. Es sind kleine Idylle, die sich in der mächtigen Wand verstecken. Ihr Gras ist trocken wie Stroh. Lebloses Urgestein klafft überall. Tief unten wird das Dach des Rifugios zu einem winzigen quadratischen Relikt inmitten eines erdgeschichtlichen Wustes aus runden Zufallsformen.
Frei, schnell und sicher
Die Wand beginnt an den Kräften zu zehren. Wir sind froh, auf dieser langen Tour meist ungesichert zu gehen. Die flexible Routenwahl des freien Steigens eröffnet bessere Griffe und Tritte. Es führt zu einer natürlichen, gleichmässigen Kletterbewegung. Seilfrei durchschreiten wir auch schneller steinschlaggefährdete Bereiche. Unsere Konzentration ist auf die Bewegung und die Felsbeschaffenheit fokussiert, nicht auf Karabiner-Klimbim. Lästige Körperverrenkungen für Sicherungszwecke bleiben uns erspart. Das Resultat ist ein angenehmer Kletterrhythmus, der durch seine Konstanz zu einer hohen Steiggeschwindigkeit führt. Für uns als Paraalpinisten ist das viel wert, denn ein schnelles Erreichen des Ziels verbessert unsere Chance auf den Flug.
Ein Filzhut am Abgrund
Inmitten der Wand stellt eine Querung die Schlüsselstelle dar. Sie ist von beeindruckender mentaler Qualität. Eine überhängende Passage ist zu überwinden. Schon etwas müde vom Stemmen, Spreizen und Wuchten reiße ich mich zusammen. Alles Kopfsache, sage ich mir, eine Gaukelei frecher Berggespenster! Meine pochende Hand greift noch einmal entschlossen zur Hutkrempe. Habe die Ehre, Schiara! Dann bugsiere ich mein hecklastiges Gesäß über den Abgrund. Unter meinem abgewetzten Lederbergschuh blicke ich etliche hundert Meter ins Nichts. Ein schauderhafter Anblick, den das rote Schuhband zu einem Stilleben todesverachtender Bergnostalgie macht. Ich blicke auf das kalte Eisen hinter der ausbauchenden Felsnase und strecke langsam meinen Arm aus. Ich packe es, willens es zu zermalmen. An Hals und Armen staut sich das Blut in den Adern. Ein Atemzug, dann ein neuer Tritt, auf dem die Last des Rucksacks vorsichtig zu ruhen kommt. Die Welt steht still im Angesicht des Endes. Der Brustkorb streicht an der blutarmen Faust entlang, an der mein Leben hängt. Das Bein kommt nach. Dann habe ich Stand in einem Riss der Südwand. Ich ziehe demütig meinen Gamsjägerhut und klopfe die vertrockneten Spinnweben vom Filz. Leidenschaftlicher Pioniergeist übermannt meine Seele. Nach dem Vorbild der militantesten Bergliebhaber von einst wünsche ich mir einen schweren Hammer, um das eiserne Menschenwerk hinter uns auszuschlagen. Auf dass das Glück der Südwand fortan nur wagemutigsten Alpinisten vorbehalten bleibe.
Ein blendendes Wunder
Es sind sechs Stunden vergangen, als der Sattel der Gusela de Vescová zu sehen ist. Die „Gusela“ ist das steinerne Wahrzeichen der Stadt Belluno. Eine Felsnadel, die freistehend zum Symbol der Region wurde. Hier führt der Klettersteig Zacchi aus der Südwand heraus zum Gipfelanstieg über die Westflanke. Die Querung davor öffnet den letzten, imposantesten Tiefblick. 1700 Höhenmeter sind für uns an der Gusela geschafft. Der Weitblick nach Norden öffnet sich. Wir wähnen uns in Gipfelnähe, denn die Sicht reicht schon jetzt über das gesamte Wunderwerk Dolomiten. Eine weitere Gaukelei, wie sich herausstellt. Der nächste Kraftakt durch einen Kamin folgt. Der Fels der Westseite wird zunehmend brüchiger, loser. Ausgleichsbewegungen fordern meine schwindenden Kraftreserven. Durstig wird der Gipfelsturm für mich zu einem selbstquälerischen Trott in geistiger Monotonie, die im Selbstzweck weder Hoffnung noch Kalkül mehr kennt. Mein Radius umfasst nur noch Schotter, Fels, dann wieder Schotter. Im Blickfeld blitzt es. Sind es die hellen flinken Sterne, die bei grossem Durst den Augapfel innerlich umschwirren? Ich hebe den Kopf und sehe ein blendendes Licht. Es ist ein Blechkasten, in dem sich die Sonne spiegelt. Mir kommen wirre Ideen: Mohammeds Briefkasten? Der W-LAN Router des Allmächtigen? Vali hält das Gipfelbuch in den Händen, und in der Ferne glänzt der Schnee des Alpenhauptkamms. Berg heil, meine Heimat. Berg Heil, meine Liebe.
Keine Rutschpartie in den Himmel, bitte!
Mich treibt Sorge weiter voran, denn ein Abstieg über 2000 Höhenmeter ist nicht verlockend. Ständig prüfe ich emotionslos alle Faktoren für einen Gleitschirmstart. Eine stabile Hochdrucklage sorgt für schwachen Wind. Er umspült wechselhaft den Gipfel. Eine Möglichkeit befindet sich 50 Meter unter der Schiara auf einem Schuttband, das Platz für einen Schirm bietet. Die westliche Ausrichtung verspricht brauchbaren Startwind. Doch bleiben die Leinen auf diesen Geröllhalden oft hängen, und das Band fällt schnell in die Senkrechte ab. Startbar ist es dort, wenn überhaupt, nur einzeln. Es wäre bei der Vorbereitung leicht absturzgefährdet und bietet auch nach dem Abheben keinen Raum für Fehler. Felsnadeln würden sofort zum Slalomflug zwingen. Der Pluspunkt ist allein der Wind. Wir merken uns dieses Schuttband als „im Notfall startbar“.
Wir folgen dem Gipfelgrat Richtung Osten, wo sich in einem Kilometer Entfernung eine steile Wiese zeigt. Ohne den Flugdrang im Nacken wäre der Weg dorthin ein prächtiger Genuss. Für uns ist er ein Wettrennen gegen Windlaunen und Sonnenstand, denn der Hang gerät zunehmend in thermikschwaches Seitenlicht. Die Wiese zeigt sich immer einladender, bis die Ernüchterung eintritt. Sie ist verflucht steil. Ihr trockenes Gras ist eine der grössten Gefahren der südlichen Dolomiten. Jedes Jahr rutschen ahnungslose Wanderer so in gnadenloser Beschleunigung unaufhaltbar ins Jenseits. Wir müssten die Gleitschirme im Hang mit unseren Holzsplittern befestigen und dabei auf jeden Tritt achten. Ein Fehlstart wäre höchst riskant, obwohl auch ein unkontrolliertes Segel als Art Bremsfallschirm auf der Rutschpartie dienen könnte… Ich verwerfe den unausgereiften Plan mit dem einsetzenden Nordostwind. Die Thermik aus der Südseite ist ab jetzt passé. Ich schlage vor, 150 Meter abzusteigen, um in einem flacheren Teil der Wiese gewaltsam mit Rückenwind und Gottvertrauen den Hechtsprung in die Südwand zu erzwingen. Ein konservativer Ansatz, der wohl meiner Erschöpfung geschuldet ist.
Die Steirische atmet
Valis Gedanken erscheinen mir wesentlich frischer. Sie findet die elegantere Startlösung, denn die Windrichtung zeigt östliche Konstanz. „Wir öffnen die mittleren Zellen der Kappe direkt auf dem Grat. Hier und jetzt. In einer guten Windphase starten wir wie ein Seiltänzer“. Ein Balanceakt auf des Berges Schneide.. Meinen Knien gefällt der Vorschlag vortrefflich. Nicht ein Höhenmeter zu Fuss mehr! Das, was zählt, ist nur der Wind, und der kitzelt fein an den Zellen. Valis Segel steigt prompt, steht über ihr und hat Auftrieb. Da saust sie schon wie eine Gams leichtfüßig über das Geröll. Der Anblick pumpt mir Glück und Kraft in Mark und Bein. Ich ziehe an, das Segel entfaltet sich. Es atmet ein, fächert auf, schön wie eine steirische Harmonika! Prall gefüllt kann es losgehen mit der Musik! Nun aber hopp, Herr Dirigent, bevor dieser prachtvollen Alpensymphonie die Luft ausgeht! Die Schnallen der Kniebundhose klingen in meinen Ohren wie eine Triangel. Dazu donnern die Bergschuhsohlen wie Paukenschläge. Und nun zum Auftakt die goldenen Blechbläser, wenn ich bitten darf! Doch es ist der Wunsch, der Vater dieses Gedankens bleibt. Meine Beine baumeln über dem Ostgrat der Schiara, der unter mir entschwindet. Im gleichen Augenblick verfliegen Schall, Traum und Wunsch im Wind.
Der Felsengeist
Es liegt ein Gleitflug von über 2000 Metern vor uns. Die winterliche Ostlage zeigt sich wie erwartet freundlich, harmlos und turbulenzfrei. Nur die 10 Kilometer lange Gleitstrecke über das unlandbare Zustiegstal müssen wir rechtzeitig bedenken. Ich fliege zur Südwand der Schiara, blicke in ihre Schluchten, auf ihre Nadeln aus Fels, in ihre finsteren Kamine. Wie ein lautloser Geist folgt mir der Schatten meines Segels auf dem roten Gestein. Er wechselt umtriebig seine Gestalt und zieht Grimassen. Aus der Ferne springt er mich plötzlich an und scheint mein weisses Tuch packen zu wollen. Ich spiele mit ihm wie mit einer Bergdohle, die nach dem Brotkrümel trachtet. Ganz nah zappelt der schwarze Berggeist neben meinem Winglet an der Wand. Wenn er sich mein Segel schnappt, ist es aus…
Doch genug der jugendlichen Respektlosigkeit im Gebirge! Wir gleiten hoch talauswärts Richtung Süden, denn in unteren Schichten kann Gegenwind den Gleitwinkel verringern. Meine schweren Arme lasse ich schlaff herab hängen. Am Horizont liegt der weisse Dunst der Adria. Mein Flug gleicht einer Kreuzfahrt durch das Luftmeer. Wir erreichen die südlichen Ausläufer der belluneser Dolomiten. Über dem Piavetal tauchen wir unter die Inversionsschicht und damit in ein anderes Wetter. Die Luft lebt. Nach einem 1000 Meter Gleitflug durch regungslose Atmosphäre befinden wir uns jetzt in einer Thermikwelt. An den steilen Hängen sprudeln Warmluftblasen an das unsichtbare Dach der Sperrschicht. Eng am Relief zentrieren wir die Aufwinde an der Westflanke des Monte Terne, dem scharf geformten Schutzpatron der Schiara. Ich prüfe den Wind mit einem Konturenflug. Mein schwarzer Berggeist schleicht neben mir über die goldenen Grashalme ruhig einher. Ganz freundlich scheint er mir. Da mache ich kehrt, setze den Anflug erneut an und stehe sanft. Vali folgt dem Lockruf. Ich lege mich ins Gras. Erst jetzt merke ich, wie sich die Anspannung des Tages löst. Ganz langsam, denn innerlich treibt mich noch immer die Pflicht des Voranschreitens eines Paraalpinisten. Der dauerhafte Druck Entscheidungen zu treffen, die überlebenswichtige Tragweite haben, ist endlich fort. Auch der physisch kraftraubende Wettlauf gegen den kurzen Tag ist vorbei. Vali überlässt mir ihren letzten Rest Wasser, bevor ich starte. Der Abend ist bereits kalt. Ich verschränke im Flug die Arme um meine Hände zu wärmen. Im schattigen Tal treibt der Bergwind den Rauch der Schornsteine schon in die Niederungen. Ich beobachte, wie Vali über dem weiten Piavetal nach Konvergenzen und Abstrahlungen sucht. Es ist ein symbolträchtiges Bild, denn unser Abenteuer gelang durch ein Zusammenspiel, in dem sich Enthusiasmus und Erfahrung ergänzten. Wir haben die Schiara gemeistert. In einem Team, das aus einem Haudegen und einer furchtlosen Sportskanone bestand. Und weil wir es gemeinsam schafften, wird es mir in wertvollerer Erinnerung bleiben als viele Alleingänge.
Am Brunnen
Als ich in einem abgeschiedenen Dorf lande wird es schon düster. Die Wiese ist getränkt von Tau. Ich folge dem friedlichen Plätschern von Wasser, das mich zu einem alten Brunnen führt. Ich lasse mich an ihm nieder, öffne die Schuhe und stille meinen Durst wie ein Kamel, das die Wüste durchquerte. Das köstliche Lebenselixier reanimiert bald meinen ausgetrockneten Hirnschmalz. So warte ich auf meine tapfere Kameradin, als mir aus dem Nachthimmel die Zeilen eines fliegenden Bergvagabunden zufallen, der heute sein Glück fand.
Ein Maultier trug den Stein herbei
Auf dem ich sitze, müd’ doch frei
Das Nass durchrinnt mich voller Segen
Kommt es doch von Eis und Regen
Stille, Licht, die Furcht und Not
Sind des Bergmanns täglich Brot
Mich sandte, nahm, die finst’re Nacht
Sinnlos, freudvoll, ist’s vollbracht
Felix Wölk