Foto: Felix Wölk / Vali Burk nutzt hochlabile Lagen in den Dolomiten

Fliegen bei Überentwicklung

Gleich vorweg: Ich möchte niemanden dazu verführen, sich mit dem Gleitschirm in Wettersituationen zu begeben, die gefährlich sind. Es steht aber außer Zweifel, dass der grösste Anteil der Sicherheit im Gleitschirmfliegen von der Zeit abhängt, die Piloten in der Luft verbringen. Flugfenster zu beurteilen war 2024 in den Alpen vielleicht so schwierig wie nie zuvor. Es gab Piloten mit jahrzehntelanger Erfahrung, die aus Unsicherheit in dieser Saison das Zepter warfen. Wir leben heute in einem Klima, dass sich in den letzten Jahren verändert hat, doch dieses Buch soll ein gewissenhafter Meteorologe schreiben. Ich möchte eine Hilfestellung geben, um Wetterverhältnisse und Flugbedingungen in dem Raum zu beurteilen, in dem wir uns bewegen. Global gesehen ist es ein ganz kleiner, den unsere eigenen Augen stets überblicken. Und es ist heutzutage oft ein zeitlich begrenzter. Unseren Flugraum schmückt meistens ein Wolkenbild, das uns alles Relevante verrät, denn es bewegt sich live, in Echtzeit, so wie unser Gleitschirm. In den Süd- und Zentralalpen bestand der Himmel im vergangenen Sommer aus unzähligen Überentwicklungen, deren Charakter oft ein rasend schnelles Wachstum war. Schenkte man alten Meteo-Regeln heute noch Glauben (Überentwicklung in Sicht = Flugverbot), hätte man hier wohl 2024 keinen Flug erlebt. Von Linsenwolken ganz zu schweigen, doch das ist nicht Thema. Um Überentwicklung (also maßloses Wolkenwachstum) verstehen zu lernen, müssen wir leider mit einer Grundregel des Gleitschirm-Meteo-Unterrichtes brechen, die seit Beginn unseres Sportes alle Piloten verwirrt, die das Wetter lesen wollen. Denn es ist leider nicht die warme Luft, die uns schön steigen lässt. Es ist eigentlich ein feuchter Schwall, in dem wir aufschwimmen…

Das Märchen von der Thermik

Thermikflieger kennen die Situation: Ein Aufwind hebt mein Segel. Sauber zentriert wird das Steigen besser. Der Zeitpunkt war perfekt, denn es bilden sich Kondensationen über mir. Nach wenigen hundert Metern schiebt es richtig an. Die Basis droht, und ich ergreife die Flucht ins Blaue. Nun ist es physikalisch aber so, dass warme Luft viel mehr (unsichtbare) Feuchtigkeit speichern kann als kalte. Wenn es kalt ist, bildet sich Nebel und Kondensation. Wenn es warm wird, löst sich Nebel auf. In meiner Thermik steige ich aber angeblich darum, weil sie wärmer ist als meine Umgebungsluft. Folglich müsste meine warme Thermik über mir in ein blaues Loch führen, das von der kondensierten kälteren Umgebungsluft umgrenzt wird. Quasi ein Cumulus-Donut, in den ich hineindrehe. Schön wär’s. Tatsächlich ist es umgekehrt: Meine vermeintlich „warme“ Thermik kondensiert. Dazu spüre ich in Aufwinden ab einer bestimmten Höhe niemals einen Temperaturunterschied zur Umgebungsluft. Selbst wenn ein 10-Meter Bart in der Höhe für eine wachsende, enorme Differenz sprechen müsste. Es ist das Gegenteil der Fall: An der Basis ist es klamm und kalt wie in einem feuchten Keller. Die Wahrheit ist: Hauptmotor großer Aufwinde ist nicht die höhere Temperatur. Es ist die höhere Luftfeuchte. Feuchte Luft ist leichter als trockene. Darum steigt sie. Die Erklärung gibt uns die Wissenschaft. Das Wasserstoff-Atom ist leichter als Sauerstoff. In feuchter Luft findet es sich in grösserer Anzahl wieder. Damit eine feuchte Luftmasse aber überhaupt zu steigen beginnen kann, benötigt sie Temperaturunterschiede am Erdboden. Quasi als Aktivierungsenergie. Es ist also ein Zusammenspiel von Temperaturdifferenz und Luftfeuchte, was Thermik entstehen lässt. Ich möchte hier auf das Buch „Meteorologie für Segelflieger“ von Henry Blum verweisen.
Für die Einschätzung von Überentwicklungen und das Verständnis von Wolkenwachstum sollte ein Gleitschirmflieger aber verstehen: Der Temperaturunterschied einer sogenannten Thermik ist nach wenigen hundert Metern ausgeglichen. Massive Aufwinde, starkes Steigen und Gewitterzellen entstehen hauptsächlich aufgrund der leichteren Feuchtluft. Ob wir in Zukunft weiterhin von „Thermik“ reden sollten, ist, genau betrachtet, ein wenig die Frage, denn es ist ja eigentlich Wasser, das nach oben strömt. In den Alpenländern würde man es vielleicht als „Himmelfluss“ oder „Wasserlift“ bezeichnen. In Deutschland wäre es wohl eine „atomare Energiekompensationsströmung zur Neutralisierung des molekularen Energiehaushaltes“ (autsch..) Ich plädiere für „Wasserwunder“ oder, zeitgemäß, „O2 Sky Kicker“, denn das Phänomen hilft dem trägen Sauerstoff auf die Sprünge und ist unser Motor, wenn wir mal so richtig den Himmel rocken wollen.

Überentwicklung – Das Rätsel der Meteorologie

An Tagen mit grundsätzlichem Gewitterpotenzial sind Anzahl und Ort von Überentwicklungen für uns Gleitschirmflieger nicht ausreichend genau prognostizierbar. Die Auslöse einer Überentwicklung hängt oft von lokalen Faktoren ab, die ins kleinste Detail gehen können. Das erkannte bereits der Philosoph Konfuzius: „Ein Schmetterling kann mit einem Flügelschlag am anderen Ende der Welt ein Unwetter verursachen“. Wenn sich viele Faktoren zur gleichen Zeit günstig unterstützen und vereinen, kann es zu einem Schwelleneffekt führen, der Luft in eigendynamisches Steigen versetzt. Die Liste der Faktoren ist endlos: Sonneneinstrahlung, mechanische Luftumwälzung durch Winddurchbrüche, Feuchtigkeitszufuhr, Kaltluftzufuhr, Temperaturänderungen, Wellenbildung mit einhergehenden Luftdruckdifferenzen, thermische Entwicklung durch Leebereiche, Luftmassenwechsel durch Änderung der Grosswetterlage, und, und, und.. Die Faktoren folgen zwar den Gesetzen der Physik, sind jedoch letztlich nicht mess- oder vorhersehbar. Sie sind zu komplex. Seriöse Wetterdienste prognostizieren lediglich großräumige Tendenzen und Chancen. Wer heutzutage viel und sicher fliegen will, der muss (wieder) lernen, Wolkenbildung mit den eigenen Augen einzuschätzen. Vor Ort und im Flug. Gewitterlagen machen es uns von allen gefährlichen Wetterlagen am einfachsten, denn die Gefahr ist visuell sichtbar. Sie entsteht aus stetigem Wolkenwachstum und kommt keineswegs überraschend. Die Kunst besteht darin zu beurteilen, ob eine Überentwicklung Auswirkungen auf meinen lokalen Luftraum hat. Dafür ist Erfahrung notwendig. Um diese zu sammeln möchte ich in Folge Ratschläge für einen schnelleren und sichereren Lernprozess geben.

Immer wieder Wolken lesen

Beobachte so oft du kannst den Himmel. An Flugtagen sagen dir die Wolken bereits morgens, ob es labil wird. Für eine sommerliche Gewitterlage spricht eine frühe, starke Wolkenbildung in Form von Cumuluswolken. Beobachte vor allem die Geschwindigkeit ihres Wachstums. Eine scharf gezeichnete Form bedeutet schnelles Wachstum, denn die Luft quillt. Die Gefahr der Überentwicklung wächst. Ein gutes Zeichen sind eine Verlangsamung oder Stagnation des Wachstums. Sehr aufschlussreich ist die Form ihrer Obergrenze. Wenn sie ausfranst oder zu diffusen Formen verebbt kann es folgende Gründe haben: Warme, trockene Höhenluft stoppt die steigende Luftmasse. Oder Starkwind in der Höhe zerstört den Aufwind. Beide Gründe bremsen oder verhindern mögliche Überentwicklung. Sie sind bezüglich Gewitterneigung also positiv zu werten.

Versuche an der Wolkenform die Hauptwindrichtung und die Windstärke abzuschätzen. Eine Cumuluswolke wird von Wind verformt und wächst je nach Windstärke schräg. Auch kann sie in Windrichtung ziehen. Schliesse anhand der aktuellen Windrichtung am Himmel darauf, ob die Zufuhr überregionaler, labiler Luft drohen könnte. Hilfreich ist dafür ein Satellitenbild, denn es zeigt, woher Luftmassen in den kommenden Stunden deinen Flugraum erreichen. Halte in die Richtung, aus der der Wind kommt stets genau Ausschau, denn was du dort siehst, kommt auf dich zu. Dabei solltest du bedenken, dass Luft in hohen Lagen schneller strömt. Labilität kann deinen Luftraum bereits erreicht haben, ohne dass es Anzeichen der Wolkenbildung gibt. Sie schwebt quasi als unsichtbares Energiepotenzial über dir. Aufwinde, Wolkenbildung und Überentwicklung sind eine zwingende Folgeerscheinung. Im Flug bemerkst du diese Änderung vorerst an besseren Aufwinden. Das ist grundsätzlich ein fliegerischer Segen. In Gewitterlagen kann es zum Fluch werden. In den Südalpen sind südliche, auch südwestliche Höhenströmungen labilisierend, da sie vom Mittelmeer kommend Feuchtigkeit mit sich führen. Die Gewittergefahr wächst. Im Norden sind nordwestliche Windrichtungen oft labilisierend, aufgrund kaltfeuchter Atlantikluft. 2024 gab es allerdings Gewitterlagen aus verschiedensten Himmelsrichtungen. Also: Lese lieber die Wolken. Dazu gleich zwei Tipps für Sonderfälle, die den ungeübten Wolkenleser verwirren können: Von unten betrachtet täuscht eine vitale Cumuluswolke gerne eine falsche Windrichtung vor. Man wähnt die Kondensation am Rand in eine Richtung ziehen zu sehen, verwechselt dies aber mit der allgemeinen Ausbreitung der wachsenden Wolke, die in alle Richtungen stattfindet. Auch windverwehte Kondensationen können täuschen. Das passiert, wenn eine tiefe Luftschicht schneller ist als die aufliegende. Entstehen an dieser Grenzschicht thermische Kondensationsprozesse, werden die Wolken verzogen, indem ihre horizontale Geschwindigkeit abgebremst wird. Dieses Phänomen ist aber eher seltener.


Das eiserne Gesetz des „Gewitterfliegers“

Wenn du an Tagen mit Überentwicklungstendenz fliegst, solltest du deinen Blick noch bewusster auf die Wolkenkulisse richten. Die wichtigste Grundregel ist, einen Fluchtweg zu behalten, besser zwei. Es ist das eiserne Gesetz der „Gewitterfliegerei“. Dein Fluchtweg ist das stabile Blau, das in ausreichender Größe in möglichst kurzer Reichweite zur Verfügung stehen muss. Wenn es (noch) keinerlei Wolkenbildung in deiner Fluchtrichtung gibt, ist dort auch sinkende Luft zu finden. In den Alpen sprechen wir hier von einer stabilen Blauregion mit einer Ausdehnung, die mindestens 60 Kilometer Durchmesser haben sollte (das kann knapp bemessen sein und hängt vom Piloten und der Größe der Überentwicklung ab). Sicherer ist es, wenn eine ganze Himmelsrichtung komplett stabil ist. Oft bilden sich beispielsweise in den Voralpen Gewitter, während das Flachland dauerhaft stabil bleibt. Relativ verlässliche Fluchtregionen sind im Gebirge oft Täler. Wenn es zu Überentwicklungen kommt, ist ein Talwind oft die Folge. Je stärker er ist, desto weniger Aufwinde können dort entstehen, weil der Wind Thermiken im Keim zerstört, bevor sie sich vereinen und mächtig werden. Der Talwind ist aber auch oft der nährende Strom, der das „Loch“ unter Überentwicklungen füllt. Darum kann er in solchen Lagen an Stärke zunehmen. Du solltest sicher sein, dass er noch eine Landung erlaubt. Treibe dieses Spiel mit der Fluchtzone nicht zu schnell zu weit. Wenn du dich an solche Flugfenster herantastest, dann beobachte ununterbrochen deine sichere Blauzone. Eine kleine Kondensation in der Fluchtregion kann bereits ein Zeichen dafür sein, dass auch dort die Luftmassen zu steigen beginnen.

Der Weg zur Landung ist weit

Mit der Entscheidung, den Flug zu beenden, ist es bei hoher Labilität noch nicht getan. Wenn du am Rand einer Basis den Entschluss zur Landung triffst, kann das einen Gleitflug von einer halben Stunde bedeuten – ein Zeitmaß für neutrale Luft, die du kaum haben wirst. In solchen Wetterlagen kann allerdings in wenigen Minuten Gewaltiges passieren, was auch im Blau Steigen hervorrufen könnte. Je höher du fliegst, desto grösser und verlässlicher muss demnach deine blaue Fluchtzone sein.


Die alte Geschichte vom Kaltluftausfluss

Überentwicklungen haben Auswirkungen auf die Umgebung. Der „Kaltluftausfluss“ ist hier das beliebte Schreckgespenst Nummer Eins. Von einer Gewitterwolke am Horizont ist dieser aber vorerst nicht zu erwarten. In den Alpen kommt er auch nicht über hunderte Kilometer als zerstörerische Böenwalze daher. Unlandbare Kaltluftausflüsse finden statt, wenn es für einen Flug schon lange zu spät ist. Viel zu nah baut sich dann schon ein Gewitter auf, oft donnert es bereits. Eine verlässliche blaue Fluchtzone gibt es dann meist schon lange nicht mehr. Ganz nah, etwa 30 Kilometer entfernt oder näher, muss es zappenduster durch vertikale Wolkenausdehnung sein. Auch Kaltluftausflüsse gibt es in allen Stärken. Eines der Hauptzeichen dafür, dass Kaltluft aus einer Wolke herab fällt sind Regenschauer, die mit mehr oder weniger starken Ausflüssen einhergehen. Einen Regenschauer erkennst du nicht verlässlich auf dem Regenradar deines Telefons, denn er registriert auch Tropfen in und an der Wolke, die schon lange wieder verdunstet sind, bevor sie den Erdboden treffen. Du erkennst Regen an grauen Schleiern mit deinen Augen. Du siehst seine Intensität am Farbton des Graus (je dunkler desto intensiver der Regen), seine Ausdehnung an der Breite des Schleiers. Je stärker der Regen ist, desto stärker ist der Kaltluftausfluss.

Eine neue Dimension übernimmt

Im Gegensatz zu drohenden Kaltluftausflüssen nehmen Überentwicklungen einen viel weniger offensichtlichen, früheren Einfluss auf deinen Luftraum. Da in diesen Wetterlagen viel grössere Luftmassen vertikal bewegt werden, stellen sie das klassische thermische Windsystem (das Talwindsystem, auch die überregionale Windrichtung) gerne auf den Kopf. Es finden Ausgleichsströmungen statt, die wesentlich grössere Dimensionen aufweisen. Sie übernehmen gerne das Kommando über den winzigen Gleitschirmfliegerluftraum. Der Übergang zum globalen Wettersystem, das im Grunde nichts anderes ist als ein ständiger Luftausgleich, ist hier fließend. Überentwicklungen können auch als Höhenwindbarrieren wirken und temporär für Windrückgang oder Stille sorgen. Doch auch der Höhenwind will nach dieser „Aufstauung“ weiter fließen. Und zwar nun durch hohen Druck beschleunigt. Für uns kann das bedeuten, dass plötzlich Winde durch die Täler pfeifen, mit denen wir nicht gerechnet hätten. Ihre Richtung und Stärke wird unberechenbar. Sie folgen oft überhaupt nicht mehr den Landebierregeln „Das Gewitter saugt“ oder „Da fliesst’s jetzt ab“. Wenn sich solche Windänderungen einstellen ist es ein Zeichen für immense vertikale Luftbewegungen großer Ausmaße. Irgendwo, relativ nah, steigt etwas in ganz großem Stil. Die Zeit für eine sichere Landung ist dann schon eher länger vorbei.

Die Basis schließt sich

Je grösser eine Cumuluswolke wird, desto vielfältiger ist visuell ihre Basis. In einem grossflächigen Aufwind, der schon lange Bestand hat, gibt es bereits vertikale Ausgleichsströmungen zurück in die Tiefe. Bevorzugt am Rand der Wolke. Oft stürzen Luftschwalle auch punktuell herab. Vor der endgültigen Überentwicklung mit starkem Niederschlag ist es an der Basis ein zunehmendes Durcheinander von fallender und steigender Luft. Alles spielt sich hier ganz nah am Taupunkt und damit an der Nebelbildung ab. Kondensation passiert aber verzögert, Luft braucht nach dem Erreichen des Taupunktes einige Sekunden Zeit, um sichtbar zu werden. Schnell kann es dazu führen, dass zufällig wesentlich tiefer Kondensation entsteht. Wer zu nah an der Basis fliegt kann so überraschend keine Erdsicht mehr haben. Es droht ein orientierungsloser Steigflug in die Wolke. „Wolkenflugmissgeschicke“ passieren meistens aus diesem Grund. Die Wolke schliesst sich völlig überraschend unter dem Flieger. Je größer eine Wolke ist, desto größer ist auch diese Gefahr. Der offizielle Wolkenabstand von 300 Metern ist hier sicher nicht verkehrt. Dennoch ist er nur ein Richtwert, denn in der Praxis ist er nicht messbar. Wolkenabstand ist nur mit viel Erfahrung mit dem Auge zu beurteilen. Der vertikale Blick zur Basis verliert sich in einem gegenstandlosen, diffusen Grau. Fliege darum unter einer Wolke frühzeitig am Rand des Aufwindes. Und zwar dort, wo dein blaues, sicheres Fluchtfenster liegt. Falls du die Höhe falsch einschätzt erreichst du so die Wolke am Rand und bist schnell in Sicherheit. Dass Kaltluft vor dem Wolkenbruch bereits punktuell ausfließt zeigen übrigens die dramatischen Ausbauchungen an der Untergrenze gewittriger Wolken kurz vor ihrer Entladung. Sie reißen Kondensation in die Tiefe, die sich verzögert auflöst. Das führt zu beulenartigen Formen.


Die Wellen der Überentwicklungen

Labilität kommt heutzutage mehrmals am Tag. Aufwinde sind stärker und aggressiver, als sie noch vor einigen Jahren waren, da der Luftmassenwechsel schnellebiger geworden ist. In der Praxis bedeutet das, dass Wolken in mehreren Phasen des Tages rapide wachsen können. Ich erinnere mich in den Südalpen an kein Jahr, das eine Wachstumsgeschwindigkeit der Cumuluswolken wie im Sommer 2024 aufwies. Die thermische Aggressivität führt zu hochfrequentigen Schüben vitaler Wolkenbildung. Oft gibt es drei, manchmal vier Phasen von dramatischer Wolkenbildung pro Tag. Eine Gewitterlage muss sich trotz der Aggressivität dennoch nicht einstellen. Ein Grund ist, dass sich schnell wachsende Wolken ihre eigene Nahrung nehmen, indem sie den Erdboden abschatten. Schlagartig fehlt so die Aktivierungsenergie der Sonne (hier also der initiale Temperaturunterschied), um Aufwinde auszulösen. Die Wolken sterben, da der Schwellenpunkt des eigendynamischen Luftmassensteigens noch nicht erreicht ist. Sie lösen sich auf, woraufhin das Spiel von Neuem beginnt. Für einen Flieger ist es eine schwierige Aufgabe zu beurteilen, ob eine Labilisierungswelle „durchdreht“. Was bei der Entscheidung hillft, ist wieder einzig und allein das ständige Beobachten des Wachstums. Hier ist noch zu bedenken, dass ein Wolkenturm in feuchtheißen Regionen oder Wetterlagen sehr schnell dramatische Ausmaße annimmt. Oft tragen diese „Wassersäcke“ aber weniger Energie in sich als sie vermuten lassen. Äquivalente Wolkenentwicklung in trockenen Gegenden oder im Hochgebirge solltest du mit noch größerer Vorsicht betrachten.

Erwärmung, die Wolkenbremse

Beginnt ein Tag, steigt die Temperatur in deinem gesamten Luftraum kontinuierlich an. Das Gesamtluftpaket ist somit in der Lage, immer mehr Feuchtigkeit zu binden, ohne dass sie sichbar ist. Warme Luft kann schliesslich mehr Feuchtigkeit speichern. Für Lagen mit starker Wolkenentwicklung bedeutet das, dass sich Wolken auflösen, kleinere Ausmaße annehmen, und in ihrer Anzahl geringer werden. Erwärmung wirkt also entgegen der Überentwicklung. Oft zeigen labile Tage bereits vormittags dramatische Himmelbilder, die wenig Aussicht auf den Flugtag lassen. Doch gerade in den langen Sommertagen wirkt das Phänomen Erwärmung stark. Es kann stundenlange Flugfenster bewirken. Wird es Abend oder Nacht, dreht sich dieser Effekt gerne ins Gegenteil um. Besonders nach Sonnenuntergang nimmt die Abkühlung der lokalen Atmosphäre ihren schnellen Lauf. Gab es bereits Tendenzen zu eigendynamischen Steigprozessen, und die gibt es an Tagen mit Überentwicklungsneigungen, werden diese durch die allgemeine Abkühlung befeuert. Ein Beispiel dafür sind blitzgeflutete Sommernächte. Die Gewitter der Nacht entstehen ohne jegliche Sonneneinstrahlung. Die „Gewitterbremse Erwärmung“ wurde vollständig gelöst. Hebungsprozesse nehmen ihren freien Lauf.


Die Einbettung

Überentwicklung ist sichtbar und lesbar. Es gibt aber eine Ausnahme. Im Fall der geschlossenen Wolkendecke können Cumulustürme eingebettet sein. Erkennbar ist dies nur am unterschiedlichen Kontrast der Bewölkung. Je dunkler der Grauton, desto höher ist die vertikale Ausdehnung kondensierter Luft. Wetterlagen wie diese sind die tückischsten, da ihnen oft angenehme Flugluft vorangeht. Die Aufwinde sind turbulenzfrei, da die Sonneneinstrahlung fehlt. Sie entwickeln sich zu großflächigem Steigen, das wie ein harmloses Gleitschirmwunder erscheint. Nicht zu sehen ist, dass sich über der Wolkendecke bereits ganz nah eine Überentwicklung befindet, die wie ein grosser Luftmagnet wirkt. Wo ein Fluchtweg sein könnte, ist ebenfalls nur am Grauton zu erahnen. Je heller, desto sicherer. Um diese Überraschungen zu vermeiden, solltest du dich vor dem Flug bei einem seriösen Wetterdienst über das allgemeine Gewitterpotential informieren. Persönlich empfehle ich für den Ostalpenraum die Prognosen der österreichischen Flugsicherung AustroControl. Da ein beachtlicher Wirtschaftszweig von diesem Wetterdienst abhängt bleibt er so nah an der Realität wie möglich.


Am Limit fliegen

An drohende Überentwicklungen kann sich ein erfahrener Gleitschirmflieger unglaublich nah heranwagen, wenn er es darauf anläge. Der Clou dabei ist, nicht nur sprichwörtlich, dass du weisst, woher der Wind weht. Ein separierter Wolkenturm dramatischen vertikalen Ausmaßes, auch eine breite labilisierte Zone, werden den Hauptteil ihres Unheils auf der Leeseite des Hauptwindes verbreiten. Auf der Leeseite schwemmt bevorzugt die Kaltluft über das Land, die wiederum labilisiert. Dort, von Wind geschoben, fällt der Regen als Vorbote. Vor allem ist es auch die Leeseite, wohin das ganze Monstrum weiterzieht. Mit einer stabilen blauen Fluchtzone könnte ein Flug luvseitig beeindruckend lange ausgereizt werden. Doch auch hier: Wieder ist die Voraussetzung dafür ein scharfes Auge, das an den Wolkenformen zuvor sicher erkannt hat, woher Labilität kommt und wohin sie zieht.


Das Kräftemessen

Wenn du deinen Blick für den Himmel schulst, wirst du erkennen, dass eine labile Lage nichts anderes ist als ein Kräftemessen meteorologischer Faktoren. Die Erwärmung kämpft gegen die Wolkenbildung, Aufwinde wollen sich gegen den Höhenwind behaupten, der sie wiederum zerstören will, trockene Luftmassen unterdrücken vitale Thermiken, die (anfangs) durch Sonneneinstrahlung einen Helfer haben, der sie bei Abschattung aber im Stich lässt.. Es ist ein spannender Kampf, und es ist interessant ihn zu beobachten. Um diesen Kampf zu verstehen, bleibt uns heutzutage aber nichts anderes übrig, als unsere Sinne wieder der Realität zuzuwenden. Das bezieht sich nicht nur auf Tage mit Überentwicklungen. Zahlen und Werte sind Hilfsmittel, mit denen wir uns eine Welt, so wie wir sie uns vorstellen, erklären können. Die Wahrheit aber liegt vor deinen Augen. Du siehst sie, und du spürst sie. Sinne müssen benutzt werden, damit sie nicht verkümmern. Diese Zeit musst du dir nehmen, wenn du deinen Luftraum beurteilen willst.


Felix Wölk